Die englischen Telefonzellen erleben ein Revival
Sie gehören zum britischen Inventar wie die Queen oder der Afternoon Tea – und sie sind ein Stück Kulturerbe: die roten, gusseisernen Telefonzellen. Touristen lassen sich vor den ikonografischen Objekten ablichten, machen Selfies oder schicken sie als Ansichtskartenmotive nach Hause. Sie dienen als Fotokulisse, Unterschlupf bei Regen oder Werbefläche für Prostituierte. Die roten Zellen mit der Krone unter dem sanft geschwungenen Dach wurden zu einem nationalen Symbol und zum Lieblingsgegenstand der Populärkultur, wie in Filmklassikern wie «The Ladykillers» mit Alec Guinness (1955) oder Hitchcocks «Die Vögel» (1963). David Bowie setzte der Telefonzelle auf dem Cover seines Jahrhundertalbums «The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars» aus dem Jahr 1972 ein Denkmal.
Doch spätestens wenn Politiker Bestandsschutzgarantien aussprechen und Designer dazu übergehen, den Gegenstand als Sparschwein, Kekse, Klingel oder – im Fall der Telefonzelle – gar als Duschkopf zu reproduzieren, ist es um die Vitalität geschehen. Dann wird Kultur zu Folklore.
Das berühmteste Strassenmöbel Grossbritanniens ist mittlerweile obsolet. InZeiten, wo jeder mit seinem Handy in der Hosentasche herumläuft und runde um die Uhr erreichbar ist, braucht man keine stationären Telefonzellen mehr. Der Betreiber, die British Telecommunications (BT), macht Verluste und will das Gros der derzeit noch 40 000 Telefonzellen abschalten. Als die Firma, ein börsennotierter Konzern, im vergangenen Jahr den 80. Geburtstag feierte und in einer linkischen Aktion ein Bild des Telefonzellenklassikers K6 an die Wand seines Hauptgebäudes projizierte, war das mehr Nostalgie als ein Bekenntnis zur Tradition. Das Ende der analogen Telefonzelle scheint besiegelt. Die Konzernstrategen sprechen über WiFi und Breitbandzugang. Damit lässt sich mehr Geld verdienen.
In einer Reihe mit den Union Jack
Die Morbidität der roten Telefonzelle war gewissermassen in ihr Design eingeschrieben. Ihr Schöpfer, der Architekt Gilles Gilbert Scott, der unter anderem die Liverpool Cathedral und der Bankside Power Station entwarf, modellierte 1924 den Prototyp K2 nach dem Mausoleum, das der Architekt John Soane (1753–1837) für seine Frau geschaffen hatte. Das hölzerne Original kann heute unter dem Torbogen der Royal Academy bestaunt werden.
Manch einer verfällt in Nostalgie, wenn er die Telefonzellen in Gibraltar sieht, die als letzte Verbindungsrelais künftig die Aussengrenze des geschrumpften britischen Empire bilden und so etwas wie das letzte identitätsstiftende Integral einer globalisierten Gesellschaft sind.
Das in London verlegte Weltblatt «Financial Times» suchte nach dem Brexit nach den Ikonen britischer Identität und stellte die rote Telefonzelle in eine Reihe mit dem Union Jack und dem Georgskreuz. Jetzt, wo der Telefonzelle das Totenglöcklein läutet, gibt es Bestrebungen, das Kulturerbe zu retten.
Glorifiziertes Kulturerbe
Die British Telecom hat das Programm «Adopt a Kiosk» lanciert, bei dem ausrangierte Telefonzellen zum symbolischen Preis von einem Pfund erworben werden können. 3500 Kommunen haben nach Konzernangaben bereits von dem Programm Gebrauch gemacht.
In Schottland wurde eine Telefonzelle in eine Mini-Bibliothek umfunktioniert, und in London nahe der Hampstead Heath wurde ein stillgelegter Fernsprecher in einen Kiosk verwandelt. Statt Ferngespräche bekommt man jetzt hier einen frischen Kaffee aufgebrüht. Und am Brighton Pier in Südengland haben findige Verkäufer eine Telefonzelle kurzerhand in ein Souvenirgeschäft umgewandelt. Wobei zu fragen wäre, was hier eigentlich verkauft wird: Ein Andenken oder das Gefühl von Vergangenheit? Ist die altehrwürdige K6 nicht selbst zur Devotionalie erstarrt, zu einem Gegenstand der Andacht und Erinnerung? Nostalgiker stellen sich die ausrangierten Boxen inzwischen sogar in ihre Gärten. Die Gefahr besteht freilich darin, dass das Objekt musealisiert wird.
Vielleicht glorifiziert man das Kulturerbe zu sehr. Wer einmal in einer nach altem Zigarettenrauch und Parfüm miefenden Telefonzelle ein Ortsgespräch geführt und das passende Münzgeld zusammengekratzt hat, weiss um den unkomfortablen Charakter der Zellen. Vielerorts fielen die Fernsprecher dem Vandalismus zum Opfer und wurden zum Symbol des Verfalls ganzer Strassenzüge. Im Rückspiegel neigt man dazu, in ihrer Existenz bedrohte Dinge zu verklären.
Die Telefonzelle erinnert an den Kurzfilm «La Cabina», eine surreale spanische Groteske aus dem Jahr 1972. Der Plot: Ein Mann betritt eine freistehende Telefonzelle und findet ein defektes Telefon vor. Beim Versuch, die Zelle zu verlassen, stellt er fest, dass die Tür verriegelt ist. Herbeiströmende Passanten versuchen, den Mann aus seinem Gefängnis zu befreien. Schnell bildet sich eine Menschentraube – das Unglück wird zum Schauspiel, die Telefonzelle zur Freilichtbühne. Schliesslich wird die Zelle samt Insassen von einem Lastwagen abtransportiert und durch spanische Städte des Franco-Regimes und durch die Prärie gekarrt, ehe sie in einem unterirdischen Endlager, einer Art Telefonzellenfriedhof, landet. Die Telefonzelle ist Käfig und Kokon zugleich.
Die klaustrophobische (und auch geistige) Enge zeigt sich auch in dem Psychothriller «Nicht auflegen!»,in dem der New Yorker Yuppie Stuart Shepard, gespielt von Colin Farrell, in einer Telefonzelle zwischen Broadway und 8. Avenue von einem Sniper bedroht wird. Ein beklemmendes Kammerspiel, das die Dialektik zwischen Verbunden- und Eingeschlossensein wie unter einem Prisma zeigt.
Parallelen zum Smartphone
Auch wenn das Möbelstück aus der Zeit gefallen wirkt und inzwischen durch weniger schicke WiFi-Hotspots ersetzt wurde, zeigt die Telefonzelle Parallelen zum Smartphone. Wir leben heute alle in kommunikativen Filterblasen und nehmen die Wirklichkeit nur durch das Display unseres Smartphones wahr. Wie in «La Cabina» werden wir durch unsichtbare Lastwagen namens Algorithmen durch den virtuellen Raum befördert. Wir sehen die ganze Welt und sind doch gefangen in der eigenen Bubble. Die Telefonzelle ist die materialisierte Filter-Bubble. Womöglich ist das minimalistische Design viel moderner, als man meint, wo sich in berstenden Grossstädten Mikro-Apartments wie Schuhkartons stapeln und die mobile urbane Jugend das Leben in Boxen verbringt. Vielleicht landet bald das Smartphone auf dem Mülleimer der Geschichte, weil man mit Datenbrillen kommuniziert. Die polyvalente Telefonzelle aber wird so schnell nicht aus der Mode kommen.
Von Adrian Lobe