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Schweiz am Wochenende

Cholesterin ist besser als sein Ruf – das sind die grössten Irrtümer

Cholesterin hält das Gehirn in Gang und ist weniger schädlich als bisher angenommen. «Die alte Furcht vor Cholesterin muss kritisch hinterfragt werden», fordert der Schweizer Neurobiologe Hans Rudolf Olpe.

Bis zu einem Dutzend Eier soll sich Otto von Bismarck morgens einverleibt haben. Trotzdem wurde er 83 Jahre alt. Mit Rheuma und Übergewicht zwar, aber geistig fit. Hatte der legendäre Reichskanzler einfach Glück? Für viele Experten ist seine Hirngesundheit nicht mehr verwunderlich. Denn erstens treiben Eier den Cholesterinwert nicht so stark nach oben, wie man ursprünglich dachte. Und zweitens scheint das Blutfett fürs Denken eher Segen als Fluch zu sein.

«Cholesterin ist ein wichtiger Bestandteil des Gehirns», erklärt der Schweizer Neurobiologe Hans Rudolf Olpe in seinem aktuellen Buch «Hirnwellness. Alzheimer, Hirnschlag und Depressionen – von den Risiken zu präventiven Möglichkeiten». Der ehemalige Dozent der Universität Basel geht sogar davon aus, dass zu niedrige Cholesterinwerte dem Nervensystem schaden. Das passt nicht zu den Horrormeldungen, an die wir uns in den letzten Jahrzehnten gewöhnt haben. Demzufolge steht Cholesterin für verstopfte und verhärtete Blutgefässe, wodurch Bluthochdruck, Infarkte und Schlaganfälle drohen. Weswegen sein Wert nach Ansicht vieler Mediziner möglichst weit runter muss. Beispielsweise durch Fleisch-, Butter- und Eierverzicht oder durch Spezialmargarinen und cholesterinsenkende Medikamente wie die Statine, die der Pharmaindustrie weltweit 25 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr bescheren.

Doch die Fronten bröckeln. «Die alte Furcht vor Cholesterin muss kritisch hinterfragt werden», fordert Olpe. Und er steht damit keineswegs allein. Immer mehr Wissenschafter und auch grosse Fachgesellschaften sehen es ähnlich. Der dänische Mediziner Uffe Ravnskov begründete schon 2003 ein internationales Forschernetzwerk, um die tatsächlichen Fakten zu Cholesterin zu klären. Seiner Meinung nach sei zwar unbestritten, dass cholesterinsenkende Medikamente das Problemfett aus den Blutgefässen verdrängen. «Doch ob dies auch zu einer Senkung des Herzinfarktrisikos führt, ist fraglich.»

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Für diese Unsicherheit gibt es mehrere Gründe. So hängt der Zustand unseres Herz-Kreislauf-Systems von vielen Faktoren ab, zu denen auch die genetische und damit unbeeinflussbare Veranlagung gehört. Ausserdem ist Cholesterin zwar ein Bestandteil der Plaques, die an den Innenwänden der Arterien den Blutfluss ausbremsen können. Doch sein Gefährdungspotenzial hängt wesentlich davon ab, wie «ranzig» es ist, wie weit es also durch freie Radikale oxidiert worden ist. Erst dann wird an den Blutgefässen die berüchtigte «Arterienverkalkung», die Arteriosklerose, in Gang gesetzt. Die Senkung des Cholesterinwertes hilft also nur bedingt.

Problematische Nebenwirkungen
Die internationale Cochrane Collaboration, ein unabhängiger Wissenschafter-Verbund zur Überprüfung medizinischer Therapien, kommt in einer jüngeren Analyse zum Schluss: «Wenn 1000 Personen fünf Jahre lang ein Statin einnehmen, werden 18 einen Herzinfarkt vermeiden.» Das ist wenig, die Wirkung vergleichbar mit anderen Massnahmen zur Prophylaxe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie etwa Sport, Zigarettenverzicht und der Abbau von Übergewicht. Es macht daher keinen Sinn, jedem mittelalten, übergewichtigen Mann mit mässig erhöhtem Cholesterinspiegel ein Statin oder ein vergleichbares Mittel zu verordnen. Vorher müsste man auch, wie Nikolaus Marx von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie betont, «Faktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Alter, Geschlecht und eine mögliche familiäre Veranlagung berücksichtigen».

So unsicher der Nutzen, so problematisch sind die potenziellen Schäden, die durch cholesterinsenkende Arzneimittel verursacht werden können. Vor allem fürs Gehirn, das in besonderem Masse auf Cholesterin als Schmier- und Baustoff von Neuronen und Synapsen angewiesen ist. Wer Statine oder verwandte Medikamente schluckt, hat im folgenden Monat fast viermal so oft mit Gedächtnisstörungen zu tun wie jemand, der nichts einnimmt.

Zudem führen die Cholesterinsenker bei jedem dritten Patienten zu Muskelschmerzen. Weiter steigern sie das Diabetes-Risiko um bis zu 32 Prozent, weil sie eine Immunantwort auslösen, die das Stoffwechselhormon Insulin einschränkt. Der Cholesterinwert kann also nach unten und der Blutzuckerwert gleichzeitig nach oben gehen – ein echter Pyrrhus-Sieg.

Trotzdem: Bei allen Risiken und Einschränkungen darf man Cholesterinsenkung nicht generell als wirkungslose Geschäftemacherei brandmarken. Ihr Nutzen auf die Sekundärprävention, also etwa zur Verhinderung eines zweiten Infarkts, lässt sich kaum bestreiten, insofern geschädigte Blutgefässe offenbar sehr anfällig für Cholesterinablagerungen sind. «Wir sollten diese Patienten nicht weiter verunsichern», warnt Jonathan Schertzer von der McMaster University in Ontario, «sondern lieber daran arbeiten, die Medikamente zu verbessern.» So ist es dem kanadischen Biochemiker und seinem Team bereits im Laborexperiment gelungen, den insulinhemmenden Effekt der Statine zu entschärfen.

Schertzer könnte sich aber auch vorstellen, durch eine Ernährungsumstellung die Effizienz der Medikamente zu erhöhen. Beispielsweise dadurch, dass man mehr Lebensmittel mit antioxidativer Wirkung oder mehr ungesättigte Fettsäuren zum Aufbau der Nervenzellmembranen verzehrt. Eine japanische Kost mit viel Grüntee und Fisch könnte also wohl der medikamentösen Behandlung unter die Arme greifen.

Die Diät ist für die Füchse
Die Hoffnung allerdings, das Cholesterinproblem durch den Verzicht auf bestimmte Lebensmittel erledigen zu können, sollte man verabschieden. Ein Experten-Gremium der US-Gesundheitsbehörden ermittelte, dass weder Eier noch Butter, Steaks und Innereien einen nennenswerten Einfluss auf die Cholesterinwerte haben. Der Grund: Der Körper drosselt die Produktion des Cholesterins, wenn es ihm mit der Nahrung zugeführt wird, sodass ihr Wert unter dem Strich mehr oder weniger gleich bleibt. Das sei, wie die Experten betonen, «ein Schutzmechanismus, der nur ganz selten nicht funktioniert».

Es sei daher nicht ratsam, akribisch alle cholesterinreichen Nahrungsmittel auf den Index zu setzen. Stattdessen sollte man lieber die Oxidationsprozesse in den Blutgefässen eindämmen – und das schafft man durch den Verzehr von reichlich Obst und Gemüse.

von Jörg Zittlau

Quelle: Schweiz am Wochenende
veröffentlicht: 4. Februar 2018 07:00
aktualisiert: 4. Februar 2018 07:00