Äthiopien hat das Zeug zur touristischen Traumdestination – nur weiss das noch kaum jemand
Eigentlich ist Vater Gedefaw Pfarrer in der Dorfkirche von Tis Issat. Aber selbst hier, im bitterarmen Nordwesten Äthiopiens, ändern sich die Zeiten. Die Menschen bleiben der Kirche fern. Gedefaw predigt seltener. Er hat sogar Zeit für einen Nebenjob: Fährmann. Vor gefühlten 1000 Jahren habe er sein Boot gekauft, ruft Gedefaw in den Motorenlärm seiner «Heavenly Sunshine». Dann nuschelt er, ich verstehe ihn nicht, frage nach. Er aber lächelt nur in die Nachmittagssonne.
Gedefaw fährt hin und her zwischen den beiden Uferseiten des Blauen Nils, etwa 20-Mal am Tag: Schulkinder steigen ein, Bauern, manchmal Ziegen, ab und Touristen, die auf dem Wanderweg auf der anderen Flussseite hinunterlaufen zu den Blue Nile Falls, den zweitgrössten Wasserfällen Afrikas. Gedefaw setzt uns am Ufer ab, schreibt in klobiger Schrift etwas in sein Rechnungsbüchlein und winkt zum Schluss mit seinem Bronze-Kreuz. «Passt auf», sagt er und schmeisst die «Heavenly Sunshine» wieder an.
Wir laufen über die satten Matten, bestürmt von Kindern, die uns ihre Trommeln verkaufen wollen, umzwitschert von blauen Vögeln mit langen Schwanzfedern, besummt von scheinbar Millionen von Grillen, die versteckt im hohen Gras hocken. Auch die Blue Nile Falls verstecken sich gut. Ihr gewaltiges Rauschen hört man schon von weitem. Doch sehen kann man die über 40 Meter hohen Wasserfälle erst nach der letzten Kurve des Wanderwegs. Wie sich der Blaue Nil da über die Klippen in Äthiopiens Ritzen stürzt: Es ist ein gewaltiger Anblick.
Äthiopien ist 26 Mal so gross wie die Schweiz, ein riesiges Land voller Wälder, Vulkane, Seen und Steppen. Nur schon die Fahrt von Tis Issat zur nahen Kleinstadt Bahir Dar dauert ewig. Wir holpern vorbei an stoisch im Weg stehenden Zebus und barfüssigen Bauern. In den Bäumen hängen zusammengerollte Bastmatten, die Bienen anlocken sollen. Am Strassenrand drängen sich Menschen auf improvisierten Märkten. Eine einfache, bunte, arme Welt. Aus dem Bus heraus wirkt sie friedlich und schön.
In Bahir Dar dann der Kulturschock: In der Lobby unseres Hotels beklagen Touristen den einsetzenden Regen, während draussen die Helfer von «Ärzte ohne Grenze» ihre Fahrzeuge beladen und zu den Flüchtlingslagern an der nahen sudanesischen Grenze aufbrechen. Als Tourist in Äthiopien kommt man sich vor wie ein Wandelnder zwischen Welten, die immer wieder aufeinanderprallen. Manchmal ist das lustig, oft eher tragisch.
Brutaler Kirchenschmuck
Auf der Bootsfahrt über den erdbraunen Tanasee komme ich auf andere Gedanken. Getinet Fetene, der hier als Naturschützer arbeitet, erzählt von den Krokodilen und Nilpferden, die sich weiter oben im riesigen See tummeln. «Baden würde ich hier nicht», lacht er. «Auch wegen der Pestizide, die die Bauern am Ufer des Sees auf ihre Felder sprühen.»
Noch mehr ärgert sich Getinet aber über jene Bauern, die ihre Felder vergrössern wollen und dazu Wälder abholzen. Machen kann er dagegen nur eines: Die Kirchen finanziell unterstützen. «Auf ihrem Boden darf niemand Landwirtschaft betreiben, das ist seit je so. Deshalb zahlen wir ihnen Unterhalt, damit sie ihr Land nicht den Bauern verkaufen.»
Um den Tanasee stehen 35 Kirchen, viele stammen aus dem 14. Jahrhundert, fast alle sind rund und aus Lehm gebaut. Die Schönste von ihnen ist die Ura Kidane Mihret. Vor ihren Toren sitzen Schüler und singen liturgische Gesänge. Ein Kirchenwächter mit alter Büchse döst im Schatten eines Mangobaumes. Wir ziehen die Schuhe aus und treten ein. Der Innenraum ist verziert mit kunterbunten Gemälden, die die Geschichten der Bibel in ihren brutalen Details widergeben. Äthiopien ist nach Armenien und Georgien das drittälteste christliche Land der Welt. Wie Gottesfurcht geht, das weiss man hier. Die buntgemalten Vierteilungen und lebendigen Verbrennungszeremonien sind artistische Reminder daran, was mit jenen passiert, die dieses Wissen nicht zur Genüge ehren.
Einer der mächtigsten Wächter über die gottesfürchtigen Äthiopier ist Aba Yared Miseganawe. Der 45-jährige Priester sitzt in seinem mit schweren Vorhängen abgedunkelten Büro in Lalibela, der nach einem alten Kaiser benannten Felsenkirchenstadt im bergigen Norden des Landes. Die elf Kirchen, die Lalibela vor 700 Jahren angeblich nach direkt aus dem Himmel übermittelten Bauplänen aus dem nackten Felsen schlagen liess, sind eine der Hauptattraktionen Äthiopiens. Pilger aus aller Welt fahren hierhin in die abgelegene Bergregion, um sich die Felsenkirchen anzuschauen.
Der Honig und die Toten
Aba Yared ist der oberste Priester hier. Und trotz der Wunderwerke vor seiner Tür ist er voller Sorge. «Immer mehr Schüler gehen an säkulare Schulen. Ich fürchte, dass unsere Kultur verloren geht», sagt er und faltet die Hände. Seine zweite Sorge: die Abdeckungsvorrichtungen, die die UNESCO vor zehn Jahren über die berühmten Felsenkirchen spannen liess.
Wie Damoklesschwerter hängen die Blachenwerke über den Felsenkirchen. Wer im Inneren der Kirchen steht und sich vorstellt, wie Menschen diese heiligen Räume mit baren Händen aus dem Fels gehauen haben, der vergisst die irdischen Sorgen Aba Yareds um die von der EU mitfinanzierten Schutzsegel schnell. Die Felsenkirchen sind magisch. Auch die nackten Neonröhren, die zur Ausleuchtung der Räume von den Decken hängen, können diesen architektonischen Wundern nichts anhaben.
Neonröhren, so etwas hat Amadu noch nie gesehen. Elektronische Geräte sind in seinem Heimatdorf Gamole im Süden Äthiopiens eine Rarität. Umso breiter strahlt er, als ich ihm meine Kamera reiche. Der 11-Jährige, bis eben noch Sujet touristischer Klick-Wut, ist plötzlich selber am Drücker, klickt und klickt und rennt durchs Dorf. Entlang der Gassen stehen Lehmhütten. Eine blinde Frau hebt die Hand zum Gruss. Bauern tragen Körbe voller Früchte von den Feldern.
Gamole ist eines von rund 40 Dörfern des Konso-Stammes. Die Trockenterrassen der Konso sind UNESCO-Weltkulturerbe. Doch nicht nur ihre Terrassen, auch ihre Traditionen sind einzigartig. Der Totenkult zum Beispiel.
Die Konso – einer von 56 Stämmen, die im Süden Äthiopiens leben – folgen den Weisungen ihrer neun Clanführer. Wenn die Clanführer sterben, werden sie mit Honig und Wasser einbalsamiert und für neun Jahre, neun Monate, neun Tage und neun Stunden auf einem speziellen Stuhl sitzengelassen. Krankheitsphase, nennen die Konso diese Zeit. Sie nutzen sie, um sich von ihren Oberhäuptern zu verabschieden und einen Totempfahl zu schnitzen. Erst danach werden die Clanführer beerdigt. Es ist ein Sterben in Raten, seit Jahrhunderten gepflegt.
Sind die Touristen, die mit all ihren Geräten und Vorstellungen durch diese Dörfer laufen, nicht eine Gefahr für die uralten Kulturen? Das frage ich am nächsten Morgen unseren Guide Fitsum Gezahegne, als wir einen anderen Stamm, die Sidama, besuchen.
Wir sitzen in einer Hütte, vor uns brauen zwei Frauen selbstgerösteten Kaffee über dem Feuer, irgendwo hinter uns stehen zwei Rinder, die immer wieder laut aus dem Dunkel der Hütte schnauben. «Wir können Kulturen nicht schützen, indem wir sie einfach isolieren», sagt Fitsum. Der Tourismus sei wie das Feuer in der Mitte der Hütte. «Wenn wir ihn aus den Augen lassen, kann er gefährlich werden. Wenn wir ihn aber geschickt kontrollieren, können wir viel erreichen für unser Land.»
Die Rinder schnauben im Dunkeln, wir schlürfen Kaffee. Er schmeckt bittersüss.
von Samuel Schumacher