Trudi Gerster
Foto: Keystone
Märchen

Trudi Gerster wäre heute 100 Jahre alt geworden

Sieben Jahrzehnte hindurch hing ihr die Nation an den Lippen: Trudi Gerster war Erzählerin, Stimmkünstlerin, Gesamtkunstwerk. Vor 100 Jahren kam sie in St. Gallen zur Welt.

«Der Herrgott wird sich auch freuen»: So schön hat ihr der Komiker Marco Rima zum Abschied nachgerufen, als Trudi Gerster im April 2013 starb. Er selbst wurde gefeiert als «bestes Trudi seit hundert Jahren» und entschuldigte sich stets damit, dass man nur Menschen parodiere, die man möge. Zum Beispiel eine Trudi Gerster.

Trudi Gerster, aufgenommen in ihrer Wohnung in Basel am Montag, 13. Oktober 2003

Foto: Keystone

Die Frau, die als Märchenerzählerin mehrere Generationen in ihren Bann gezogen hat. Die dafür, so Rima, einen Nobelpreis verdient gehabt hätte: Weil sie es schaffte, auch noch die hässlichsten und bösesten Figuren derart charakterstark hörbar zu machen, dass man von ihnen nicht genug bekommen konnte. Die nicht nur Hund und Katz, Frosch und Henne mit ihrer wandlungsfähigen Stimme lebhaft vor Augen stellte, sondern ein ganzes Bestiarium.

Nie klang St. Galler Mundart märchenhafter als bei Trudi Gerster. Langweilig kann es im Himmel nicht werden, seit sie dort ist.

Walterli am Stadttheater St. Gallen

Erzählen und unterhalten konnte sie schon als Schülerin. Die Nachbarskinder soll sie im Hinterhof des Elternhauses in St. Gallen mit Spukgeschichten in Angst und Schrecken versetzt haben.

Gleich nach der Matura eroberte sie die Bühne, zunächst eine intime: als Märchenfee im Nestlé-Kinderparadies an der Landi 1939 in Zürich, mit Kindern auf dem Schoss und Erwachsenen, die täglich wiederkamen und an ihren Lippen hingen. Es war die Rolle ihres Lebens, ein Spielplatz ohne Grenzen. Sie war schon über neunzig, als sie zum letzten Mal öffentlich erzählte, 2010 in Fribourg.

Drei Jahre lang lernte sie zwischen 1939 und 1941 am Bühnenstudio Zürich das Handwerkszeug, dann erhielt sie ein Engagement am Stadttheater St. Gallen, als «jugendliche Naive»; sie spielte mit Berühmtheiten wie Helen Vita, Hans Albers und Heinrich Gretler – etwa das Walterli in «Wilhelm Tell». Einmal verheiratet und zweifache Mutter, stellte Trudi Gerster ihre Bühnenkarriere zurück. Stattdessen nahm sie das Märchenerzählen wieder auf, nicht nur für die eigenen Kinder.

Trudi Gerster nach einer Lesung am 30. November 1991 in Zürich

Foto: Keystone

Das Mikrofon war ihre Rampe
Anfang der 1950er Jahre wurde sie einem breiten Publikum bekannt durch regelmässige Auftritte im «Kinderclub» von Radio DRS 1. Perfektionistisch wie in allem, was sie anpackte, machte Trudi Gerster das Radio zu ihrem Medium, das Mikrofon zur Rampe.

«Strassenfeger» seien die Sendungen mit Trudi Gerster gewesen, schreibt Franziska Schläpfer in ihrer 2016 erschienenen Biografie der Künstlerin. Bedeutende Kulturpreise gewann sie nie, aber auf «s Goldig Krönli», das Gütesiegel für pädagogisch wertvolle Schweizer Kinderproduktionen auf Tonträger, war Trudi Gerster abonniert. Die Leserschaft des «Sonntagsblick» kürte sie 1998 zur beliebtesten Kulturschaffenden der Schweiz, 2005 erhielt sie den Ehren-Prix Walo.

Sie sammelte, übersetzte und bearbeite Märchen und andere Geschichten, auch Kinderbuchklassiker wie «Peter Pan», «Doktor Doolittle» oder «Gullivers Reisen»; sie drückte ihnen durch die Art des Erzählens und die stupende Stimmkunst ihren eigenen Stempel auf, machte «Ohrfilme» daraus – wie Disney, nur ohne Zeichnungen.

Mehr als vierhundert Märchenbücher seien in der Hausbibliothek gestanden, erinnert sich ihr Sohn Andreas Jenny, der sämtliche Schallplatten Trudi Gersters illustriert hat. Aus dieser Quelle schöpfte sie und schrieb Audiogeschichte. Kritiker haben ihr nachträglich die «Vergersterung» der Märchen angekreidet.

Prominente, Politikerin, Diva
Damit allein jedoch war sie nicht ausgefüllt. Klug, mutig, modern: So porträtiert Franziska Schläpfer Trudi Gerster im Buch mit dem Untertitel «Ein facettenreiches Leben».

Es war noch Platz darin für Politik, für Auftritte und Interviews bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Für Talkrunden, für zwei unglückliche Ehen, für die Erziehung ihrer Kinder. Als eine der ersten Frauen wurde Trudi Gerster 1968 in den Grossen Rat des Kantons Basel Stadt gewählt. Bis 1980 engagierte sie sich für Frauenrechte, in der Kultur- und Baupolitik, für Heimat- und Umweltschutz.

Sie blieb eine Diva, wurde zur Kultfigur. «Ich habe eine angeborene Krankheit», gestand sie ihrer Biografin (die sie am liebsten selbst gewesen wäre), «ich kann nicht nein sagen..» Aufmerksamkeit jedenfalls war ihr sicher. Auch wenn sie nicht wie ein Säuli in der genau richtigen Stimmung grunzte. Sondern sich als Stimme Trudi Gersters zu Wort meldete.

Quelle: watson.ch
veröffentlicht: 5. September 2019 17:13
aktualisiert: 5. September 2019 17:13