Sexuelle Gewalt

«Vergewaltigungsmythen helfen, von der Realität abzulenken»

Im Wald am Käferberg wird eine Frau von einem unbekannten Täter attackiert und sexuell missbraucht. Ein Angstszenario, das viele Frauen kennen. Tatsächlich finden die meisten sexuellen Übergriffe in einem anderen Kontext statt.

Corina Elmer ist Geschäftsleiterin der Frauenberatung sexuelle Gewalt in Zürich. Die Beratungsstelle berät und unterstützt Frauen, die von sexueller und/oder häuslicher Gewalt betroffen sind. Rund 80 Prozent der Frauen, die sich im Jahr 2020 hier Hilfe geholt haben, kannten die Täter schon vor der Tat. Im Gespräch mit ZüriToday erklärt sie, wieso das so ist und sich Vergewaltigungsmythen trotzdem hartnäckig halten.

ZüriToday: Die meisten Sexualdelikte werden nicht wie im Fall am Käferberg von Unbekannten verübt, sondern von Partnern, Ex-Partnern, Bekannten und Kollegen verübt. Wieso ist das so?

Corina Elmer: Sexuelle Gewalt ist Teil eines patriarchalen Machtverhältnisses und eines entsprechenden Verhältnisses der Geschlechter untereinander. Darin gelten der Körper und die Sexualität der Frau als verfügbar.

In welcher Form kommt sexuelle Form gegen Frauen am häufigsten vor?

Es gibt einen grossen Bereich der alltäglichen sexuellen Belästigung. Das geht vom Nachpfeifen auf der Strasse bis zu ungewollten Berührungen und geschieht oft im öffentlichen Raum. Solche Belästigungen bilden den Boden einer Pyramide, deren Spitze der Mord an Frauen, der Femizid, bildet. Dieser findet eher im Privaten statt.

Pyramide der (sexuellen) Gewalt
Foto: Frauenpolitische Kommission S) Österreich

Mit welchen Delikten haben Sie am meisten zu tun?

Das sind vor allem schwerere Delikte wie Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder Nötigung. Dies hat auch damit zu tun, dass die Folgen für die Betroffenen meist schlimmer sind. Insbesondere dann, wenn der Täter jemand ist, den sie kennen und dem sie vertrauen. Dort erwartet man das nicht und die Verletzung geht nochmals tiefer. Das hat mit den sogenannten Vergewaltigungsmythen zu tun.

Was sind denn Vergewaltigungsmythen?

Die Vergewaltigungsmythen nähren die Vorstellung von einem Überfall an einem dunklen Ort durch eine fremde Person, möglicherweise durch einen Migranten. Diese Mythen bedienen ein Klischee, das immer noch viele Menschen im Kopf haben. Sie helfen dabei, von der Realität und dem, was wirklich passiert, abzulenken. Zudem dienen sie dazu, das Gefühl von Kontrolle zu vermitteln. Wenn ich nicht alleine in den Wald gehe, passiert mir nichts. Und das stereotype Bild vom fremden Täter suggeriert, dass sexuelle Gewalt nichts mit uns und unserer Gesellschaft zu tun hat.

Aber sie kommen vor.

Ja. Vorfälle, wie jener am Käferberg, lösen grosse Ängste aus und befeuern sie. Es ist das schlimmste Szenario, das wir uns vorstellen können. Es bedient das Klischee, auch wenn es statistisch gesehen der seltenste Fall ist. Und es wird auch noch bewirtschaftet, nicht zuletzt durch Politiker, die das in den Vordergrund stellen und solche Fälle gross machen. Die Realität ist aber eine andere.

Wie sieht denn die Realität aus?

Die meisten Sexualdelikte werden nicht von Unbekannten verübt, sondern von Partnern, Ex-Partnern, Bekannten und Kollegen. Solche Fälle sind für die Opfer noch viel mehr mit Scham und Schuldgefühlen behaftet. Oft werden die Opfer auch mit Unglauben aus dem eigenen Umfeld konfrontiert oder können es selbst gar nicht glauben. Sie verharmlosen es vor sich selbst und ordnen es nicht als das ein, was es ist: nämlich Gewalt.

Welche Rolle spielt die Gesellschaft in diesem Thema?

Die Angst vor schwerer sexueller Gewalt hält die Frauen auch in Schach und ist Teil des ganzen Systems, das Frauen unterdrückt. Hier müssen die Ursachen angegangen und für ein Ende von diskriminierenden Strukturen und möglichst viel Gleichstellung gesorgt werden.

Was raten Sie Opfern von sexueller Gewalt?

Nach einem Übergriff sollten sich Opfer spätestens nach 72 Stunden im Notfall eines grösseren Spitals medizinisch untersuchen lassen. Dabei sollte man darauf beharren, dass die Polizei nicht unmittelbar beigezogen wird. Opferhilfestellen können einen zum weiteren Vorgehen beraten. Wer nicht ins Spital gehen kann oder will, sollte Beweise wie Kleider sichern und in einem Papiersack aufbewahren. Auch Beweise wie SMS oder Chatverläufe sollten aufbewahrt werden.

Wieso sollte die Polizei nicht gleich beigezogen werden?

Wir raten Opfern von sexueller Gewalt, sich vorgängig bei einer Opferhilfestelle beraten zu lassen. Dies hilft, abzuschätzen, was auf einen zukommt. Im Rahmen der polizeilichen Befragungen und auch vor Gericht muss sehr genau geschildert werden, was passiert ist. Das kann retraumatisierend sein und darauf sollte man gut vorbereitet sein.

Viele Opfer sprechen erst lange nach einem Übergriff darüber.

Das ist ganz normal. Wir raten aber, wenn möglich über das Erlebte zu reden und sich Unterstützung zu suchen. Häufig werden Opfer mit Schuldzuweisungen oder Unglauben konfrontiert. Ein Opfer ist aber nie selbst schuld. Und es ist nie zu spät, darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen, zum Beispiel an einer Opferberatungsstelle.

Quelle: ZüriToday
veröffentlicht: 11. September 2023 18:22
aktualisiert: 11. September 2023 18:22