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Schweiz am Wochenende

Warum wir heute nicht weniger aber anders lesen

US-Zeitungen haben in den letzten Jahren infolge sinkender Auflagen, den «Niedergang des Lesens» ausgerufen. Allerdings: Wir lesen durch die digitale Revolution heute nicht weniger als früher, sondern anders.

Es genügt ein Blick in die U-Bahnen: Wo vor zehn Jahren Menschen in ihre Zeitungs- oder Bücherlektüre vertieft waren, sitzen heute müde Gestalten vor ihren Smartphones oder Tablets, streamen Filmserien, schauen Youtube-Clips oder spielen Online-Games. Die wenigsten lesen E-Paper. Doch lässt sich diese Beobachtung verallgemeinern? Trifft es wirklich zu, dass die Menschen immer weniger lesen? Lässt sich dieser subjektive Eindruck durch empirische Studien erhärten?

US-Zeitungen haben in den letzten Jahren, befeuert durch ihren eigenen Bedeutungsverlust infolge sinkender Auflagen, den «Niedergang des Lesens» ausgerufen. Philip Yancey beklagte in der «Washington Post» den «Tod des Lesens». Durch Zahlen belegen lässt sich das Klagelied, in dem auch Kulturpessimismus mitschwingt, aber nur bedingt. Eine Umfrage des renommierten «Pew Research Center» ergab, dass die Zahl der Amerikaner, die angaben, in den letzten Monaten ein Buch gelesen zu haben, mit 73 Prozent über die letzten Jahre recht stabil geblieben ist. 2011 lag der Wert bei 79 Prozent, nur unwesentlich höher. Die Zahl der E-Book-Leser stieg im gleichen Zeitraum von 17 Prozent auf 28 Prozent an.

Eine starke Korrelation existiert zwischen Einkommen oder Bildung und dem Leseverhalten. Je höher das Einkommen, desto mehr wird gelesen. Das lässt sich sozioökonomisch so erklären, dass Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss tendenziell mehr verdienen und von Haus aus eine höhere Affinität zu Büchern haben. Auch Herkunft und Wohnort spielen eine Rolle. Während nur 58 der Hispanics ein Buch gelesen haben, sind es bei weissen US-Bürgern 76 Prozent. Dazu wird in urbanen Gebieten mehr gelesen als auf dem Land. Der Befund gilt auch für die Superreichen: Microsoft-Gründer und Multimilliardär Bill Gates liest 50 Bücher im Jahr, Facebook-Chef Mark Zuckerberg sagt, er lese alle zwei Wochen ein Buch.

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Lesen nimmt im Alter ab

Auch in der Schweiz zeigt sich die Ungleichverteilung. Laut der vom Bundesamt für Statistik (BFS) herausgegebenen «Statistik des Kulturverhaltens in der Schweiz» lasen etwas mehr als acht von zehn Personen mindestens ein Buch. Die grössten Brüche im soziodemografischen Profil zeigen sich im Haushaltseinkommen, Ausbildungsniveau und Alter. Während erstaunlich viele Leute im Alter zwischen 15 und 29 Jahren (89,1) Prozent ein Buch lasen, nahm das Bücherlesen im Alter ab. Von den über 75-Jährigen nahmen nur 61,1 Prozent ein Buch zur Hand. Befragte, die eine Hochschule erreicht haben, lasen fast alle (93,8 Prozent), von der Sekundarstufe I nur etwas mehr als die Hälfte (51,7 Prozent).

Zerstreuungsmaschine

Einen allgemeinen Niedergang des Lesens kann man aus den Zahlen nicht ableiten. Zumal Hörbücher und Podcasts, die ja auch Literatur umfassen, nur eben in audiovisueller Form, in den meisten Lesestatistiken gar nicht auftauchen. Die Frage ist daher nicht, wie viele Bücher Menschen lesen, sondern wie gründlich sie diese lesen. Der meiste Lesekonsum scheint augenscheinlich kursorisch: Man ruft einen Webseitentext oder einen Artikel auf, scrollt durch den Text und klickt auf den nächsten Link.

Der Netzkritiker Nicholas Carr vertritt die These, dass das Internet eine gigantische Zerstreuungsmaschine sei, die den Menschen der Fähigkeit zum «deep reading», also zur gründlichen Lektüre, beraube. Die These ist umstritten, wird aber von einigen Untersuchungen gestützt. So hat zum Beispiel das Marktforschungsinstitut dscout in einer Studie herausgefunden, dass die Testpersonen ihr Handy im Durchschnitt 2617-mal pro Tag berührten. Nachrichten poppen auf, Anrufe gehen ein, Tweets werden verschickt – wo bleibt da noch Zeit zur gründlichen Lektüre?

Dass Texte immer kürzer werden, zeigt auch, dass unsere Aufmerksamkeitsspannen geringer werden. Der Deutsche Lehrerverband (DL) bemängelte jüngst, dass Schüler und Studenten in Deutschland zunehmend Probleme hätten, längere Texte zu analysieren. «Junge Menschen sind immer weniger bereit, sich auf diese Anstrengung überhaupt einzulassen», erklärte DL-Präsident Heinz-Peter Meidinger gegenüber der «Neuen Osnabrücker Zeitung».

Das Digitalzeitalter hat das Lesen insoweit verändert, als wir nicht nur lesen, sondern auch (aus)gelesen werden. Der Mathematikprofessor Jordan Ellenberg fand in einer Datenanalyse heraus, dass die meisten Leser von Thomas Pikettys 789 Seiten umfassendem Werk «Das Kapital im 21. Jahrhundert» nicht über Seite 26 hinauskamen. Das war natürlich reichlich unangenehm für den Autor, dass sein Bestseller erstaunlich wenig rezipiert wurde und die Leserschaft seine Thesen offensichtlich gar nicht durchgelesen hat. Doch Daten lügen nun mal nicht.

Auch bei anderen Büchern sieht es nicht viel besser aus. Stephen Hawkings «A Brief History of Time» wurde laut der Auswertung der Kindle-Daten nur zu 6,6 Prozent gelesen. Ellenbergs Analyse erhob keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit, weil Amazon die Daten nicht herausgibt. Doch der Versandhändler weiss nicht nur, welche Bücher wir kaufen, sondern auch, was wir darin lesen – und im Kindle-Lesegerät markieren.

Schnelllesen ohne Tiefe

Die digitale Revolution war bislang eine Revolution des Publizierens, aber keine des Lesens. Menschen lesen im Zeitalter von Smartphones und Tablets noch immer so, wie sie Tontafeln und Hieroglyphen dechiffriert haben. Speed-Reading-Apps, die durch Neuausrichtung beziehungsweise Fokussierung von Worten die Lesegeschwindigkeit auf bis zu 1000 Wörter pro Minute (normal sind 300) beschleunigen wollen und versprechen, einen Roman in der Mittagspause zu lesen, scheinen daran einstweilen nichts zu ändern.

Eine Studie von US-Forschern kam zu dem Ergebnis, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit des Lesens gebe. Es sei doch sehr unwahrscheinlich, dass ein Leser, der sein Lesetempo verdoppele, dasselbe Textverständnis wie bei normaler Geschwindigkeit habe. Der Regisseur Woody Allen erzählte einmal mit dem ihm eigenen Humor über seine Erfahrungen des Schnelllesens: «Ich habe an einem Speed-Reading-Kurs teilgenommen und war in der Lage, (Tolstois) ‹Krieg und Frieden› in zwanzig Minuten zu lesen. Es geht um Russland.»

von Adrian Lobe

Quelle: Schweiz am Wochenende
veröffentlicht: 12. August 2017 05:30
aktualisiert: 12. August 2017 05:30